Die Kraniche und der Fuchs

Vor vielen, vielen Jahrtausenden, als es noch keine Menschen gab und die Natur sich ungehindert ausbreiten konnte, bevölkerten einzig Tiere diese Welt. Häufig lebten sie in Gruppen zusammen, da sie davon ausgingen, nur innerhalb dieser stark zu sein. Während ein Großteil davon unberührt lebte, führte dieser Glaube bei einigen jedoch dazu, dass sie übermütig und herzlos gegenüber anderen wurden. Diesen Tieren kam gar nicht in den Sinn, dass sie aber auch Vertrauen zueinander haben mussten, um sich gegen Gegner zur Wehr setzen zu können. Denn oft reicht nämlich schon ein kleiner Funke von Unsicherheit aus, um ein jahrelang gewachsenes Verhältnis zu zerstören.

In einem weit entfernten Land, das hauptsächlich von Steppe bedeckt war, gab es einst einen großen See. Auf den ersten Blick schien der Ort von Ruhe und Frieden erfüllt zu sein. Doch der Schein trog. Eine Gruppe Kraniche hatte sich an den Ufern des Sees niedergelassen und beschlossen, ihn als ihr neues Zuhause zu beanspruchen. Keines der Tiere war besonders klug. Doch fühlten sie sich in der Gruppe so stark, dass sie zu äußerst habgierigen Geschöpfen geworden waren. Aus diesem Grund sahen sie den See als ihr Eigentum an und waren nicht gewillt, seine Gaben mit anderen zu teilen. Es kam ihnen nicht einmal in den Sinn, dass ihr Tun ungerecht sein könnte und anderen das Leben erschwerte.

Anfangs kamen noch viele andere Tieren zum Wasser, da er der See die nahegelegenste Stelle war, um ihre Bedürfnisse zu stillen. Doch schon bald vermieden sie jeden weiteren Kontakt damit und nahmen sogar weite Umwege in Kauf, um Wasser und Nahrung zu finden. Denn jedes Mal, wenn sich den Ufern des Sees ein Lebewesen näherte, flogen die Kraniche dorthin und begannen den Neuankömmling kreischend und schnatternd zu bedrängen. Sie hüpften dabei wild auf und ab, bespritzen den Gegenüber mit Wasser, während sie Spott und Gemeinheiten von sich gaben. Die Vögel verstummten erst dann, wenn der Besucher so verletzt von ihren Worten war, dass er tief gekränkt das Weite suchte. Bald kam niemand mehr an den See und die Kraniche hatte ihn ganz für sich allein.

Eines Tages kam ein Fuchs in die Nähe des Sees. Das Tier kam von weit her und wollte sogar noch viel weiter, weshalb es keinen Grund darin sah, an diesem Ort für längere Zeit zu verweilen. Er wollte einzig seinen Durst stillen und etwas verschnaufen, bevor er sich wieder auf den Weg machte. Als er das Gewässer erblickte, entschloss er sich sofort darauf zu zu laufen und war dementsprechend überrascht, als sich ihm ein Hase in den Weg stellte. „Ich würde dir nicht raten weiter zu gehen. An diesem Ort wohnt das Böse. Davon sollte man sich fernhalten.“, sprach das Tier und verschwand gleich darauf wieder in seinen Bau, bevor der Fuchs etwas darauf erwidern konnte. Kopfschüttelnd lief er weiter und stieß erneut auf ein Hindernis. Ein Pfau baute sich vor ihm auf und riet: „Bleib lieber weg vom See, wenn du nicht verletzt werden möchtest.“ Auch er jagte im Anschluss davon und nahm dem Fuchs jegliche Möglichkeit nachzufragen, was der Grund für dieses Verhalten war. Verwirrt blieb er zurück und beschloss der Sache nachzugehen.

Am Wasser angekommen, erwarteten den Fuchs bereits die Kraniche. „Räudige Köter sind hier nicht erwünscht. Das ist unser See, also verschwinde wieder dahin, wo du hergekommen bist.“, schnatterte der größte Vogel bösartig „Vielleicht sieht er so räudig aus, weil er zu dumm ist, sich zu waschen.“, überlegte ein anderer laut und lachte. „Puh, und wie er stinkt. Hat man da noch Worte?“, klackerte der kleinste Vogel und putzte demonstrativ sein Gefieder. „Seht mal! Seht mal! Ihm fehlt ja auch an vielen Stellen Fell!“, kreischte der nächste Kranich., „Habt ihr je so etwas Hässliches gesehen? Sicher gehen ihm alle Weibchen aus dem Weg, da keine sich mit ihm abgeben will.“, mutmaßte ein weiterer. „Oh ja. Er wird ganz allein und einsam sterben, weil niemand ihn je lieben wird.“, sprach erneut der größte Kranich und beendete damit die Schimpftirade.

Während der Fuchs über die Worte der Vögel nachdachte, betrachtete er sein Spiegelbild, das von der Oberfläche des Sees reflektiert wurde. Das brachte ihn auf eine Idee. „Ihr habt recht. Sehr gut sehe ich tatsächlich nicht aus, mit den vielen kahlen Stellen in meinem Pelz. Und vermutlich rieche ich auch nicht besonders gut, da ich schon sehr lange auf Reisen bin. Und eine Partnerin habe ich auch nicht, das stimmt. Aber ich störe mich nicht daran. Ich habe mit meinem Leben Frieden geschlossen.“, meinte er und durchbrach so die Stille. Die Vögel waren verblüfft. Noch nie hatte eines ihrer Opfer mit ihnen gesprochen. Normalerweise flohen sie bereits nach wenigen Minuten tief gekränkt und kehrten nie mehr zurück. Und der Fuchs sprach sogar noch weiter. „Was ist eigentlich mit euch?“ , fragte er listig.

„Was soll mit uns sein?“, fragten die Kraniche ihrerseits verständnislos. „Was sagen denn die anderen Kraniche über euch und euer Aussehen?“, wollte der Fuchs wissen. „Andere Kraniche? Hier gibt es doch nur uns!“, behauptete der größte Kranich. Doch seine Kameraden begannen sich hinter seinem Rücken unsicher umzusehen. „Du willst uns nur auf den Arm nehmen.“, schrie der Vogel weiter und schlug wütend mit den Flügeln in Richtung des Fuchses. Dieser wich jedoch geschickt aus. „Aber ganz sicher sind hier noch andere von eurer Sorte. Schau doch selbst, wenn du mir nicht glaubst.“, meinte der Fuchs und deutete auf die Wasseroberfläche. Im Gegensatz zum Fuchs verstanden die Kraniche nicht, was sie da sahen. „Da sind ja wirklich noch andere!“, rief einer der Vögel nach einer kurzen Pause völlig entsetzt. „Unsinn, dass kann gar nicht sein.“, hielt ein anderer dagegen. „Es ist wahr! Und seht! Einer von denen verfolgt mich!“, rief der kleinste Kranich und bedeckte vor Angst die Augen mit den Flügeln.

Die Vögel stritten so lange miteinander, bis sie aus lauter Zorn aufeinander losgingen. Erst als sie sich ausgiebig beharkt hatten, stoben sie auseinander und flogen in alle Himmelsrichtungen davon. Als sie anderen Artgenossen von dieser erzählten, lachten sie diese für ihre Dummheit hemmungslos aus. Von da an mussten sie eine Menge Spott und Leid darüber über sich ergehen lassen, da sie auf die Behauptung des Fuchses hereingefallen waren. Aus Scham wagte keiner der Betroffenen mehr die Rückkehr zum See oder in die Gruppe.

Der Fuchs hingegen war am Ufer zurückgeblieben, als die Vögel davongeflogen waren. Er trank etwas Wasser und kehrte dann dem Ort ebenfalls für immer den Rücken zu. Seine Schlauheit hatte die Umgebung von der Anwesenheit der Kraniche befreit. Schon bald wurde der See wieder zu einem beliebten Treffpunkt für jedermann, den es in die Gegend verschlug. Gemeinheiten und Spott fanden jedoch nie wieder Einkehr an diesem Ort.

© K.ST.  

Ein Kommentar zu “Die Kraniche und der Fuchs

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