Das verliebte Maiglöckchen

Liebe wird allgemeinhin als ein starkes Gefühl bezeichnet, dass viele verschiedene Emotionen in sich vereint. So besteht sie unter anderem aus Zuneigung, Verbundenheit, Wertschätzung und Leidenschaft. Durch die Liebe fühlen wir uns geboren und sicher, sie bereichert unser Leben, wenngleich sie es manchmal auch ein wenig verkompliziert. Man findet sie auf viele Arten, genauso unterschiedlich ist ihre Ausdrucksweise. Es gibt jedoch eine Art von Liebe, die niemand von uns gerne erfährt, da sie einen direkt ins Unglück stürzt, wie diese Geschichte über ein Maiglöckchen uns zeigen wird.

Vor vielen Jahrtausenden, als die Menschen die Welt noch nicht bevölkerten, gediehen auf der saftigen Wiese einer kleinen Lichtung inmitten eines dichten Waldes, eine Gruppe herrlicher Maiglöckchen, deren Pracht schon von Weitem zu erkennen war. Sie beeindruckten die übrigen Bewohner des Waldes aber nicht nur im ihrem Aussehen, sondern auch mit ihrem bodenständigen und gutmütigen Wesen, wahrlicher Bescheidenheit und ehrlicher Freundlichkeit. Da störte es nicht groß, dass sie lieber unter sich blieben und ihre Zeit hauptsächlich mit ihresgleichen verbrachten als mit anderen.

Nur ein Maiglöckchen war anders. Schon als kleiner Setzling stach es unter den anderen hervor, was ihren Eltern wenig Freude bereitete. Denn das kleine Pflänzchen war von der ersten Minute seines Daseins an unzufrieden. Es sehnte sich nach Liebe, die es an vielen unterschiedlichen und weit entfernten Orten suchte, jedoch nicht innerhalb der eigenen Art. Aufgrund seines unbeständigen Charakters verliebte sich das kleine Maiglöckchen schnell und häufig. An einem Tag konnte es heftig für einen vorbeifliegenden Schmetterling schwärmen, am nächsten für ein kunstvolles Wolkengebilde am Himmel und am Tag darauf für einen aufkeimenden Farn. Egal wie aussichtslos die Situation auch war und egal wie sehr die Eltern versuchten ihm begreiflich zu machen, dass diese Liebe keine Zukunft haben würde, alle Bemühungen waren vergeblich. Denn das Maiglöckchen hielt unbeirrt an seinem Glauben fest, dass seine Art der Suche nach der wahren Liebe die einzig Richtige sein konnte.

Auch als das Maiglöckchen älter wurde, änderte es seine Einstellung nicht. So erlebte es viele bittere Erfahrungen, die es jedoch nicht davon abhielten, weiter nach Liebe zu suchen. So entdeckte es eines Tages auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung einen stattlichen Löwenzahn, der gerade zu blühen begonnen hatte. Sofort war es um das Maiglöckchen geschehen. Es spielte keine Rolle, dass der Angebetete alle Versuche der Annäherung zurückwies und sogar so weit ging, das verliebte Pflänzchen zu ignorieren. Seine Liebe blieb ungebrochen.

Still schmachtend brachte das Maiglöckchen schließlich wochenlang damit zu, den Angebeteten zu beobachten, bis die Sehnsucht es schlichtweg zu überwältigen drohte. »Es muss doch einen Weg geben, seine Aufmerksamkeit zu erlangen.«, dachte es verzweifelt, »Sicher liegt es an meinen langweiligen weißen Blüten, dass er mich nicht mag. Wer selbst ein Gewand trägt, dass die Farbe der Sonne widerspiegelt, kann gar nicht anders. Nur, was kann ich tun, damit das Blatt sich wendet?« Grübelnd verbrachte das Maiglöckchen Stunden damit, eine Lösung zu suchen, bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel. Die Lösung war so einfach! Es musste einfach seine Blüten umfärben, dann würde der Löwenzahn gar nicht anders können, als sich in das Maiglöckchen zu verlieben.

Voller Tatendrang machte es sich an die Arbeit. Mit seinen Wurzeln wühlte es die rote Erde unter sich auf, in die es dann seinen grünen Pflanzensaft laufen ließ, bevor es alles miteinander vermengte. Das Ergebnis zeigte sich innerhalb von Minuten in Form von gelben Matsch. Erschöpft, aber überglücklich fasste das Maiglöckchen in die Erde und strich seine weißen Blüten bis in die Nacht hinein damit ein. Am nächsten Morgen schien das Ziel endlich erreicht. Seine vorher weißen Blüten erstrahlten in einem fleckigen Gelb. Ohne einen weiteren Moment zu zögern, wandte sich das Maiglöckchen dem Löwenzahn zu und erstarrte. Dieser hatte über Nacht seinen prachtvollen gelben Kopf verloren. An dessen Stelle waren dünne weiße Blüten getreten, die vom Wind in alle Himmelsrichtungen verteilt wurden, bis der Löwenzahn verschwunden war. Zurück blieb das Maiglöckchen, dessen gebrochenes Herz schmerzhaft pochte.

Doch es dauerte nicht lange, bis es seinen Kummer vergaß. Denn kaum hatte der Löwenzahn das Angesicht der Erde verlassen, wurde seine Stelle von einem Regenwurm ausgefüllt, der an dessen ehemaligen Wohnort in der aufgewühlten Erde grub. Es reichte ein Blick und das Maiglöckchen war erneut bis über beide Ohren verliebt. »Was für ein königliches Geschöpf, von solch einzigartiger Form und Farbe. Hach, wie wundervoll es wäre, seine Angebetete zu sein. Nur, was kann ich tun, damit er mich bemerkt?«, fragte es sich, während es dem Regenwurm verliebt anschmachtete.

Nach einer Weile wurde dem Maiglöckchen klar, dass der Regenwurm nie lange an der Erdoberfläche blieb. Sein Reich schien unterhalb zu liegen, weshalb es beschloss, es ihm gleichzutun. Das Maiglöckchen war nämlich zur Überzeugung gelangt, dass wenn es sich ins Erdinnere begab und ein unteririsches Tunnelnetz anlegte, der Regenwurm derart entzückt wäre, dass er sich unsterblich in es verlieben würde, weshalb es sich voller Vorfreude ans Tunnelgraben begab. Es wandte alle seine Kräfte auf, um auf seinem Weg schwere Steine beiseite zu schaffen und durchschlug dabei sogar die dicksten Wurzeln der umliegenden Bäume. Irgendwann war es so tief gekommen, dass nur noch Dunkelheit und Stille um es herum herrschten. Doch das störte das Maiglöckchen nicht.

Erfüllt von Liebe wartete es geduldig darauf, dass der Regenwurm es irgendwann finden und sich unsterblich in es verlieben würde. Aber so weit kam es nicht. Nachdem das Maiglöckchen Tagelang allein im Erdinneren ausgeharrt hatte, befielen es Zweifel. Hatte es etwa in die falsche Richtung gegraben und seinen Angebeteten verpasst?  Unsicher beschloss das Maiglöckchen, zurück an die Erdoberfläche zu gehen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Gerade als es den Kopf aus der Erde steckte, schoss ein Vogel aus dem Himmel herab.

»Nanu, ein Maiglöckchen. Jetzt hätte ich dich doch glatt mit einem Regenwurm verwechselt.«, kreischte der Vogel und landete neben dem Pflänzchen im Gras. »Verwechselt? Ja, wo ist denn nun mein Regenwurm?«, fragte das Maiglöckchen verzweifelt. »Ist umgezogen. In meinen Bauch.«, erklärte der Vogel kichernd, bevor er sich wieder in die Luft erhob. Geknickt blieb das Maiglöckchen zurück.

Doch ein weiteres Mal war sein Unglück nur von kurzer Dauer. Bereits einige Tage später erspähte das Maiglöckchen einen jungen Baum am anderen Ende der Lichtung. Beeindruckt von so viel Kraft und innerer Stärke, verliebte sich das Maiglöckchen erneut Hals über Kopf. »Was für eine wunderschöne Aussicht er doch von dort oben hat.«, dachte es voller Bewunderung, »Kein Wunder, dass er mich bisher noch nicht bemerkt hat. Dabei wünsche ich mir nichts sehnlicher. Aber wie es aussieht, muss ich dafür erst einmal größer werden.« Mit diesem Ziel vor Augen, sammelte das Maiglöckchen all seine Energien um ebenfalls zu wachsen. Jedoch war das Ergebnis ernüchternd. Egal wie viel Kraft es aufwandte, es wuchs höchstens um einige Millimeter an.

Trotzdem dachte das Maiglöckchen nicht daran aufzugeben und strengte sich weiterhin an, mit dem Ergebnis, dass seine Blätter immer dünnhäutiger wurden und der Stiehl sich gefährlich unter dem Gewicht der Blüten zu neigen begann. Als sich dann ein Gewitter über der Lichtung zusammenzubrauen begann, dass von starken Sturmböen begleitet wurde, kam das Maiglöckchen in arge Bedrängnis. Geschwächt durch den Wachstumsprozess klammerte es sich mit letzter Kraft an der Erde fest, um nicht vom Wind davongeweht zu werden.

Am Ende seiner Kräfte begrüßte das Maiglöckchen voller Erleichterung den nächsten Morgen. Beinahe sofort hielt es nach dem Geliebten Ausschau und wurde bitter enttäuscht. Denn dieser war verschwunden. An seiner Stelle befand sich nur noch ein verkohlter schwarzer Fleck, der davon zeugte, dass der Baum des Nachts von einem Blitzschlag getroffen und verbrannt war. Todtraurig wandte sich das Maiglöckchen ab und vergoss unzählige Tränen.

Diesmal jedoch ließ die Trauer über den Verlust nicht nach. Aus Kummer begann das Maiglöckchen langsam zu welken, bis sein Zustand auch den anderen Maiglöckchen nicht mehr verborgen blieb. Aber obwohl sie sich jede erdenkliche Mühe gaben es aufzumuntern, änderte dies nichts an dessen Verzweiflung. »Es ist sehr nett von euch, das ihr versucht mir zu helfen. Jedoch hat das Leben nun keinen Sinn mehr für mich. Dreimal habe ich mich verliebt, dreimal wurde mir das Herz gebrochen. Für einen weiteren Versuch habe ich keine Kraft mehr. Lebt wohl.«, erklärte das Maiglöckchen eines Tages und wandte sich endgültig von den anderen ab.

Seine Kameraden wollten dies jedoch nicht einfach hinnehmen und riefen einen Uhu zur Hilfe, da diese Tiere im Wald als die Klügsten und Weisesten galten. Aufmerksam hörte sich der Uhu die Geschichte an, bevor er er das Maiglöckchen aufsuchte. Dieses war nur noch ein Schatten seiner selbst. Kraftlos und beinahe vollständig verwelkt lag es auf der Wiese, den Blick gen Himmel gerichtet. »Einen guten Tag, wünsche ich dir.«, sprach der Uhu und ließ sich neben dem Maiglöckchen auf die Erde sinken.

»Was ist daran schon gut?«, schluchzte sein Gegenüber. »Nun, was soll denn schlecht daran sein?«, wollte der Uhu im Gegenzug wissen. »Meine Liebsten haben mich verlassen, sodass ich nun völlig allein bin. Das höchste Gut, nämlich die Liebe habe ich zudem für immer verloren. Wie soll man damit nur weiterleben können? Daher werde ich verblühen und diese Welt für immer verlassen.« »So? Das ist ja interessant. Aber verzeih, wenn ich dir widerspreche. Du bist weder allein, noch hast du die Liebe verloren.«, klärte der Uhu das Maiglöckchen auf.

Entrüstet sprang dieses auf. »Unsinn! Sieh mich doch an! Ich sitze hier abseits von den anderen, was nur eins bedeuten kann, nämlich das ich alleine bin. Und die Liebe habe ich sehr wohl verloren. Wieso sonst bin ich derart unglücklich?« Der Uhu neigte den Kopf zur Seite. »Allein bist du, weil du es so gewollt hast. Du hättest auch bei denen Kameraden bleiben können. Sie haben dich nicht dazu gezwungen, dich abzuwenden.« »Das stimmt wohl, aber die Liebe habe ich trotzdem verloren.«, gab das Maiglöckchen widerwillig zu. »Was bringt dich nur auf einen so absurden Gedanken? Weil du dich seit einer Weile unglücklich fühlst? Das geht jedem so, der eine schwere Enttäuschung erlebt hat. Aber das heißt nicht, dass es dir deshalb unmöglich ist, wieder zu lieben. Hast du statt dich in deinem Selbstmitleid zu suhlen, vielleicht einmal darüber nachgedacht, warum du drei bittere Enttäuschungen erfahren hast?«

Nachdenklich starrte das Maiglöckchen eine Weile schweigend vor sich hin. »Ich weiß es nicht. Dabei habe ich mir doch solche Mühe gegeben, meinen Liebsten zu gefallen. Sogar wie sie wollte ich dabei werden. Gelohnt hat es sich allerdings nicht.« »Das konnte es sich nicht. Denn in der Liebe geht es nicht darum, den anderen aus der Ferne anzuschmachten oder sich ihm anzugleichen und derart zu verändern, nur um so zu sein wie er. Lieben heißt, man selbst zu sein, den anderen kennen zu lernen und Geborgenheit zu spenden. Verstehst du?«, erklärte der Uhu geduldig.

Und das tat das Maiglöckchen. Die Worte des Anderen hatten ihm seine vergangenen Fehler aufgezeigt und verständlich gemacht, dass es Liebe bisher nur als etwas Oberflächliches verstanden hatte und nicht als das tiefgreifende Gefühl, dass es eigentlich war. »Es ist noch nicht zu spät für dich. Sieh nur dort drüben steht ein Maiglöckchen. Es würde dich nur zu gerne lieben.«, sprach der Uhu und flog davon.

Verwundert über das jähe Ende ihrer Unterredung, starrte das Maiglöckchen ihm hinterher, bis er verschwunden war. Dann beschloss es, seinen Rat zu befolgen und das andere Maiglöckchen anzusprechen. Schon nach wenigen Minuten war es erneut um es geschehen, wenngleich es diesmal anders war, als zuvor. Diesmal fand das Maiglöckchen einen ebenbürtigen Partner, der es so liebte, wie es war. Erfüllt von wahrer Liebe legte das Maiglöckchen seine Trauer endgültig ab und fand sein Glück.

© K.ST.

Ein Kommentar zu “Das verliebte Maiglöckchen

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