Teil 1
Liebe wird allgemeinhin als ein starkes Gefühl bezeichnet, dass viele verschiedene Emotionen in sich vereint. So besteht sie unter anderem aus Zuneigung, Verbundenheit, Wertschätzung und Leidenschaft. Durch die Liebe fühlen wir uns geboren und sicher, sie bereichert unser Leben, wenngleich sie es manchmal auch ein wenig verkompliziert. Man findet sie auf viele Arten, genauso unterschiedlich ist ihre Ausdrucksweise. Es gibt jedoch eine Art von Liebe, die niemand von uns gerne erfährt, da sie einen direkt ins Unglück stürzt, wie diese Geschichte über ein Maiglöckchen uns zeigen wird.
Die Wiese der Maiglöckchen
Vor vielen Jahrtausenden, als die Menschen die Welt noch nicht bevölkerten, gediehen auf der saftigen Wiese einer kleinen Lichtung inmitten eines dichten Waldes, eine Gruppe herrlicher Maiglöckchen, deren Pracht schon von Weitem zu erkennen war. Sie beeindruckten die übrigen Bewohner des Waldes aber nicht nur im ihrem Aussehen, sondern auch mit ihrem bodenständigen und gutmütigen Wesen, wahrlicher Bescheidenheit und ehrlicher Freundlichkeit. Da störte es nicht groß, dass sie lieber unter sich blieben und ihre Zeit hauptsächlich mit ihresgleichen verbrachten als mit anderen.
Nur ein Maiglöckchen war anders. Schon als kleiner Setzling stach es unter den anderen hervor, was ihren Eltern wenig Freude bereitete. Denn das kleine Pflänzchen war von der ersten Minute seines Daseins an unzufrieden. Es sehnte sich nach Liebe, die es an vielen unterschiedlichen und weit entfernten Orten suchte, jedoch nicht innerhalb der eigenen Art. Aufgrund seines unbeständigen Charakters verliebte sich das kleine Maiglöckchen schnell und häufig. An einem Tag konnte es heftig für einen vorbeifliegenden Schmetterling schwärmen, am nächsten für ein kunstvolles Wolkengebilde am Himmel und am Tag darauf für einen aufkeimenden Farn. Egal wie aussichtslos die Situation auch war und egal wie sehr die Eltern versuchten ihm begreiflich zu machen, dass diese Liebe keine Zukunft haben würde, alle Bemühungen waren vergeblich. Denn das Maiglöckchen hielt unbeirrt an seinem Glauben fest, dass seine Art der Suche nach der wahren Liebe die einzig Richtige sein konnte.
Der leuchtend gelbe Löwenzahn und das Maiglöckchen
Auch als das Maiglöckchen älter wurde, änderte es seine Einstellung nicht. So erlebte es viele bittere Erfahrungen, die es jedoch nicht davon abhielten, weiter nach Liebe zu suchen. So entdeckte es eines Tages auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung einen stattlichen Löwenzahn, der gerade zu blühen begonnen hatte. Sofort war es um das Maiglöckchen geschehen. Es spielte keine Rolle, dass der Angebetete alle Versuche der Annäherung zurückwies und sogar so weit ging, das verliebte Pflänzchen zu ignorieren. Seine Liebe blieb ungebrochen.
Still schmachtend brachte das Maiglöckchen schließlich wochenlang damit zu, den Angebeteten zu beobachten, bis die Sehnsucht es schlichtweg zu überwältigen drohte. »Es muss doch einen Weg geben, seine Aufmerksamkeit zu erlangen.«, dachte es verzweifelt, »Sicher liegt es an meinen langweiligen weißen Blüten, dass er mich nicht mag. Wer selbst ein Gewand trägt, dass die Farbe der Sonne widerspiegelt, kann gar nicht anders. Nur, was kann ich tun, damit das Blatt sich wendet?« Grübelnd verbrachte das Maiglöckchen Stunden damit, eine Lösung zu suchen, bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel. Die Lösung war so einfach! Es musste einfach seine Blüten umfärben, dann würde der Löwenzahn gar nicht anders können, als sich in das Maiglöckchen zu verlieben.
Voller Tatendrang machte es sich an die Arbeit. Mit seinen Wurzeln wühlte es die rote Erde unter sich auf, in die es dann seinen grünen Pflanzensaft laufen ließ, bevor es alles miteinander vermengte. Das Ergebnis zeigte sich innerhalb von Minuten in Form von gelben Matsch. Erschöpft, aber überglücklich fasste das Maiglöckchen in die Erde und strich seine weißen Blüten bis in die Nacht hinein damit ein. Am nächsten Morgen schien das Ziel endlich erreicht. Seine vorher weißen Blüten erstrahlten in einem fleckigen Gelb. Ohne einen weiteren Moment zu zögern, wandte sich das Maiglöckchen dem Löwenzahn zu und erstarrte. Dieser hatte über Nacht seinen prachtvollen gelben Kopf verloren. An dessen Stelle waren dünne weiße Blüten getreten, die vom Wind in alle Himmelsrichtungen verteilt wurden, bis der Löwenzahn verschwunden war. Zurück blieb das Maiglöckchen, dessen gebrochenes Herz schmerzhaft pochte.
Der wendige Regenwurm und das Maiglöckchen
Doch es dauerte nicht lange, bis es seinen Kummer vergaß. Denn kaum hatte der Löwenzahn das Angesicht der Erde verlassen, wurde seine Stelle von einem Regenwurm ausgefüllt, der an dessen ehemaligen Wohnort in der aufgewühlten Erde grub. Es reichte ein Blick und das Maiglöckchen war erneut bis über beide Ohren verliebt. »Was für ein königliches Geschöpf, von solch einzigartiger Form und Farbe. Hach, wie wundervoll es wäre, seine Angebetete zu sein. Nur, was kann ich tun, damit er mich bemerkt?«, fragte es sich, während es dem Regenwurm verliebt anschmachtete.
Nach einer Weile wurde dem Maiglöckchen klar, dass der Regenwurm nie lange an der Erdoberfläche blieb. Sein Reich schien unterhalb zu liegen, weshalb es beschloss, es ihm gleichzutun. Das Maiglöckchen war nämlich zur Überzeugung gelangt, dass wenn es sich ins Erdinnere begab und ein unteririsches Tunnelnetz anlegte, der Regenwurm derart entzückt wäre, dass er sich unsterblich in es verlieben würde, weshalb es sich voller Vorfreude ans Tunnelgraben begab. Es wandte alle seine Kräfte auf, um auf seinem Weg schwere Steine beiseite zu schaffen und durchschlug dabei sogar die dicksten Wurzeln der umliegenden Bäume. Irgendwann war es so tief gekommen, dass nur noch Dunkelheit und Stille um es herum herrschten. Doch das störte das Maiglöckchen nicht.
Erfüllt von Liebe wartete es geduldig darauf, dass der Regenwurm es irgendwann finden und sich unsterblich in es verlieben würde. Aber so weit kam es nicht. Nachdem das Maiglöckchen Tagelang allein im Erdinneren ausgeharrt hatte, befielen es Zweifel. Hatte es etwa in die falsche Richtung gegraben und seinen Angebeteten verpasst? Unsicher beschloss das Maiglöckchen, zurück an die Erdoberfläche zu gehen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Gerade als es den Kopf aus der Erde steckte, schoss ein Vogel aus dem Himmel herab.
»Nanu, ein Maiglöckchen. Jetzt hätte ich dich doch glatt mit einem Regenwurm verwechselt.«, kreischte der Vogel und landete neben dem Pflänzchen im Gras. »Verwechselt? Ja, wo ist denn nun mein Regenwurm?«, fragte das Maiglöckchen verzweifelt. »Ist umgezogen. In meinen Bauch.«, erklärte der Vogel kichernd, bevor er sich wieder in die Luft erhob. Geknickt blieb das Maiglöckchen zurück.
© K.ST.
– Fortsetzung folgt –
Ein Kommentar zu “Das verliebte Maiglöckchen”