Von Spiegeln kann eine eigenartige Anziehungskraft ausgehen, die schon so manchen gepackt und nicht mehr losgelassen hat. Denn die Meisten von uns, die an einer reflektierenden Oberfläche vorbeikommen, erliegen früher oder später dem Bedürfnis auch hineinzusehen zu wollen. Kritisch überprüfen wir dabei unser Aussehen, was grundsätzlich nichts Schlimmes ist. Erst wenn man gar nicht mehr aufhören kann sich zu betrachten, wird es problematisch. Bekanntlich wird dadurch nämlich die Eitelkeit angesprochen, was zu einer maßgeblichen Veränderung des Verhaltens führen kann, das letztendlich in Arroganz und einem falschen Überlegenheitsgefühl gipfelt. Bis daraus schließlich die Erkenntnis erwächst, dass der Spiegel doch nicht immer nur die Wahrheit spricht, haben einen die Gefährten oft schon verlassen und Einsamkeit ist die Folge. Eine erneute Annäherung an die Welt kann dann zu einer schier unüberwindbaren Herausforderung werden.
Ein prachtvolles Geschöpf
Vor vielen Jahrhunderten lebte auf einer weit entfernten Insel ein Pfau, der unheimlich gerne an spiegelnden Oberflächen vorbeiging. Er liebte es über alles sein prachtvolles Gefieder von allen Seiten zu betrachten, dass in unzähligen blau, grün und lila Schattierungen glänzte. Wenn er die Flügel spreizte, nahmen sie eine sagenhafte Spannweite von mehreren Metern an, was ihn aus der Masse der übrigen Pfauen hervorhob. Zugleich strotzen sein Schnabel und seine Krallen vor Kraft und Vitalität, wodurch er zum schönsten und stärksten Geschöpft der ganzen Umgebung wurde. Dem Pfau war dies wohl bewusst, weshalb er gar nicht aufhören konnte sein Spiegelbild zu betrachten und den größten Teil seiner Zeit damit vertrödelte, statt etwas Sinnvolles zu tun. Auch der aufwendigen Pflege seines Gefieders widmete er Aufmerksamkeit. Gesellschaft leistete ihm aber keiner seiner Artgenossen, da der Pfau schnell grob werden konnte, wenn sein Gegenüber seine Ansprüche nicht erfüllte. Und da kein anderer so selbstverliebt war wie er, kam es, dass er die meiste Zeit seines Lebens alleine verbrachte.
Drei Begegnungen zum Nachdenken
Eines Tages betrachtete der Pfau am Ufer eines Flusses gerade sein herrliches Gefieder, als ein anderer sich zu ihm gesellte. Anders als der Pfau war sein Artgenosse kleiner und trug nur wenige Federn am Leib, die zudem von Schweiß und Schmutz verfilzt waren. „Oh je, oh je. Wenn ich so hässlich wäre wie du, würde ich es nicht wagen anderen unter die Augen zu treten. Da würde ich mich doch lieber verstecken und nie wieder hervorkommen.“, schnatterte der Pfau selbstgefällig. Sein Gegenüber blieb jedoch gelassen und zuckte nur mit den Schultern. „Schönheit allein macht nicht glücklich. Du wirst es irgendwann verstehen.“, sprach er weise und flog gleich darauf davon. Der Pfau hingegen blieb verdattert zurück. Er konnte nicht nachvollziehen, was passiert war und was die Worte zu bedeuten hatten. Letztendlich tat er sie ab und widmete sich wieder dem Blick in den Spiegel.
Später am Tag suchte der Pfau auf einer saftigen Weide nach Futter, als er auf einen Hasen traf. Dieser war von äußerst dünner und ausgemergelter Gestalt, wenngleich er kraftvoll durch das Gras hüpfte. „Du solltest besser mehr fressen, so dürr wie du bist. Wenn du nicht zunimmst, werden dich alle für unattraktiv halten.“, gackerte der Pfau und pflückte eine der reifsten Früchte von einem Busch. Der Hase hingegen legte den Kopf schief und schwieg. Nach einer Weile sprach er ernst und weise: „Immer nur das Beste zu fressen, mag zwar das Gewicht steigern, ist aber nicht gesund. Wenn du nicht ausgewogen frisst, wirst du krank werden.“ Verwirrt ließ der Pfau den Hasen zurück und suchte die nächstgelegene Wasserstelle auf, um sein Aussehen zu überprüfen. Den Ratschlag, den man ihm gegeben hatte, vergaß er bereits nach wenigen Augenblicken wieder.
Als die Temperatur zur Mittagszeit stieg und die Sonne unerbittlich vom Himmel brannte, suchte sich der Pfau einen schattigen Platz unter einem Baum. Er hatte gerade beschlossen ein Nickerchen zu machen, als ein Wildschein des Weges kam. Aufgrund der Hitze schwitzte es stark und stank fürchterlich, weshalb der Pfau angewidert zur Seite rückte, als das Tier sich neben ihm niederließ, um zu verschnaufen. Sie sprachen kein Wort miteinander, bis das Wildschein nach wenigen Minuten aufstand und sich bereit machte weiterlaufen. „Warum gehst du denn schon wieder? Es ist doch viel zu heiß, um sich zu bewegen. Entspannen dich lieber und genieß die Ruhe.“, meinte der Pfau besserwisserisch. Das Wildschwein schnaubte nur unwillig. „Wozu sollte man immer nur das tun, was schön und angenehm ist? Das führt doch zu keinem Ziel und ist nicht nur langweilig, sondern auch sinnlos.“, grunzte es dann und marschierte seiner Wege. Der Pfau hingegen schüttelte ungläubig den Kopf, bevor er sich endlich niederlegte und die Augen schloss. Selbst im Schlaf träumte er davon, wie es wohl wäre, sich von allen Seiten gleichzeitig betrachten zu können und dass so etwas wichtiges, keinesfalls eine sinnlose Zeitverschwendung war.
Die Folgen der Ignoranz
Die Jahre vergingen und hinterließen ihre Spuren im Land, sowie am Pfau. Durch seine monotone Lebensweise war er krank geworden und litt deutlich unter den damit einhergehenden Begleiterscheinungen. So waren ihm all seine wunderschönen Federn ausgefallen und er hatte so viel an Gewicht verloren, sodass seine Knochen sich direkt unter der Haut abzeichneten. Von der Betrachtung seines Spiegelbildes wollte er mittlerweile nichts mehr wissen, da er sehr unter der Situation litt. Statt nach Schönheit sehnte er sich mittlerweile mehr nach Gesellschaft und Kameradschaft, da die Einsamkeit an seinen Nerven zerrte.
Doch trotz seiner Wandlung musste er sein Leid allein ertragen, da er alle durch sein früheres Verhalten vergrault hatte. Doch der Zufall wollte, dass er eines Tages einem alten Bekannten wieder begegnete, dem Wildschwein. „Ah, dich kenne ich doch. Warum so unglücklich?“, fragte das Tier neugierig. „Wieso? Sieh mich doch an! Ich bin krank und ganz allein auf dieser Welt, weil ich früher so gemein und überheblich gewesen bin. Deshalb habe ich kein Zuhause mehr und irre herum. Ach hätte ich doch auf dich und die anderen gehört, dann ginge es mir jetzt sicher anders.“, bemitleidete sich der Pfau selbst. „Warum suchst du nicht deinesgleichen auf und bittest um Hilfe? Ich habe gehört, dass es eine Gruppe ganz besonderer Pfauen gibt, die über heilende Kräfte verfügt. Vielleicht machen die dich wieder gesund.“, gab das Wildschwein zu bedenken. „Wirklich? Ich habe seit Jahren keinen meiner Artgenossen mehr getroffen. Weißt du wo sie leben?“, fragte der Pfau begierig. Nachdem es ihm erklärt worden war, dankte er artig und machte sich sofort auf den Weg.
Eine Reise in die Selbsterkenntnis
Unerbittlich suchte der Pfau nach der besagten Gruppe, wurde jedoch obgleich seiner unermüdlichen Anstrengungen nicht fündig. Überall wohin er ging, befragte er die ansässigen Tiere. Doch stets lautete die Antwort gleich, nämlich, dass sie weitergezogen wären und er sie verpasst hätte. Als er schließlich vor Schwäche zusammenbrach, traf er auf denselben Hasen, dem er bereits vor langer Zeit begegnet war. Dieser knabberte an einer Karotte, machte jedoch keine Anstalten dem Pfau etwas abzugeben. „Lieber Hase, es tut mir leid. Letztes Mal habe ich nicht hingehört, als du mir gesagt hast, ich solle mich besser ernähren. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Es ist sicher viel verlangt, aber kannst du mir noch einmal helfen?“, fragte das Tier demütig. Da begann der Hase zu lächeln und teilte nicht nur sein Wissen, sondern auch sein Mahl mit dem Gegenüber. Nachdem der Pfau wieder zu Kräften gekommen war, verabschiedeten sich die Tiere voneinander und der Pfau setzte die Reise gestärkt fort.
Es vergangen viele weitere Monate, bevor er endlich auf die gesuchten Tiere stieß. Sie grasten gerade ein kleines Tal nach Futter ab, als der Pfau auf sie zutrat. Doch noch bevor er den Schnabel öffnen konnte, um zu sprechen, baute sich der kleinste Pfau direkt vor ihm auf und sprach: „Ach ja, wen haben wir denn da? Wie hast du mir einst selbst geraten? Wer hässlich ist, sollte niemanden unter die Augen treten und sich lieber bis an sein Lebensende verstecken?” Die übrigen Pfauen lachten grausam, bevor sie sich abwandten und dem Pfau sich selbst überließen. „Ich weiß, meine Entschuldigung kommt viel zu spät, trotzdem möchte ich sie dir vortragen. Es war falsch von mir, so etwas zu sagen. Früher habe ich es nicht besser gewusst, doch mittlerweile habe ich aus meinen Fehlern gelernt. Bitte helft mir und lasst mich ein Teil eurer Gruppe sein. Ich will auch alles dafür tun, ein guter Gefährte zu sein.“, rief der Pfau ihnen verzweifelt hinterher.
Die Heilung der ehemals eitlen Pfauen
„Nun, wenn dem so ist, wollen wir dir eine Chance geben.“, antwortete die Gruppe einstimmig. Nacheinander hob jeder von ihnen etwas nassen Lehm vom Boden, „Sollte dein Sinneswandel ehrlich und ohne jeglichen Hintergedanken sein, so wollen wir dir jeder eine Feder schenken und sie mit dieser Erde an deinem Körper befestigen. Aber sei gewarnt! Falls du uns täuschst, wird dich bis an dein Lebensende das Unglück verfolgen.“, erklang es im Chor. Nachdem der Pfau seinen Wandel erneut bekräftigt hatte, scharten sich die Tiere um ihn und rieben seinen Körper mit der klebrigen Masse ein. Bevor diese zu trocknen begann, zog jeder von ihnen eine Feder aus dem eigenen Gefieder und steckte sie in den Lehm. Kaum hatte der Letzte die Prozedur abgeschlossen, verwuchs sich das Gemisch auch schon von selbst mit der Haut des Pfaus und wurde zu einem prächtigen, neuen Gefieder. Von diesem Tag an war die Krankheit verschwunden und der Pfau lebte erfüllt von Glück mit seinen Artgenossen zusammen. Das Bedürfnis, sich in einem Spiegel zu betrachten, befiel ihn nie wieder. Denn er hatte gelernt, dass Schönheit nicht das Wichtigste im Leben war, sondern Freundschaft und Kameradschaft dieser allemal vorzuziehen waren.
© K.ST.

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Ein Kommentar zu “Der eitle Pfau”