Die alles erhellende Kerze

Teil 1

Das Licht einer Kerze bereichert unseren Alltag in jeder Hinsicht, hält es doch die Dunkelheit von uns fern. Doch was ist, wenn wir es plötzlich nicht mehr wahrnehmen? Wenn unsere Augen sich schlichtweg weigern, das Licht in unser Innerstes vordringen zu lassen und wir verloren in der Dunkelheit umherirren? Die Antwort scheint einfach zu sein. Man kämpft, gibt nicht auf, bis man einen Ausweg gefunden hat. Aber kann man gegen die Dunkelheit überhaupt gewinnen?

Der glückliche Bäckersmann

Vor vielen Jahrhunderten lebte ein junger Bäckersmann ein glückliches und sorgenfreies Leben in einer kleinen Stadt, weit im Osten. Nicht einen einzigen Grund fand er zu klagen, denn sein Beruf erfüllte ihn mit purer Freude. Für ihn gab es nichts Besseres, als Brot zu backen, Kuchen zu verzieren und Pasteten herzustellen. Keinen einzigen Tag in seinem Leben wünschte er sich, an einen anderen Ort und führte jede noch so schwere Arbeit fröhlich pfeifend aus. Seine fleißige Art gefiel auch seinem Lehrmeister, weshalb er ihn eines Tages zu seinem Nachfolger bestimmte. »Dein Arbeitseifer gefällt mir ungemein. Deshalb möchte ich dir meinen kleinen Bäckersladen anvertrauen, wenn ich ihn einmal nicht mehr führen kann.«, sprach der Mann gutmütig.

Es gab noch einen weiteren Grund, weshalb der junge Mann, derart mit seinem Dasein zufrieden war. Dieser fand sich in der schönen und sehr klugen Bäckerstochter, auf die er ein Auge geworfen hatte. »Meine Liebe und mein ganzes Sein will ich dir widmen, wenn du mir die Ehre erweist und meine Frau wirst.«, bat der junge Mann sie eines Tages. »Mein Herz gehört nur dir allein. So will ich deinen Antrag annehmen.«, antwortete das Mädchen und besiegelte auf diese Weise die Verlobung.

Ein Gewitter zieht auf

Doch schon kurz darauf, bemerkte der Bäcker, dass etwas mit seinen Augen nicht in Ordnung war. Mit einem Mal fiel es ihm ungemein schwer, die Aufschrift auf den Gewürzen in der Backstube zu entziffern. Selbst, wenn er sich ganz nah davorstellte, war es ihm manchmal unmöglich, die winzige Schrift klar zu erkennen. Auch fiel es ihm mit jedem Tag schwerer, in den Gesichtern der Leute zu lesen. Obwohl er die Augen stets krampfhaft zusammenkniff, verschwammen Augen, Nase und Mund seines Gegenübers irgendwann zu einer einheitlichen Masse, was es ihm unmöglich machte, Bekannte von Fremden zu unterscheiden. »Vielleicht bin ich nur müde. Ja, das wird es sein. Ich muss mich mehr ausruhen, dann kann ich sicher bald wieder besser sehen.«, redete er sich verzweifelt ein. Aber es änderte sich nichts.

Eines Tages, als der junge Mann eine prächtige Torte für ein reiche Kundin backen sollte, kam es jedoch zu einem großen Unglück. Unermüdlich hatte er die ganze Nacht hindurchgearbeitet und ein wahres Kunstwerk geschaffen. Seine Auftraggeberin war begeistert, als sie den Kuchen am nächsten Tag abholte. »Nur ein kleines Stück will ich probieren.«, frohlockte sie und biss herzhaft in Stück, dass ihr der Bäcker reichte. Doch kaum hatte sie den Bissen im Mund, spuckte sie ihn auch schon wieder aus. »Pfui Teufel. Das schmeckt ja salzig! Willst du mich vergiften, du Lümmel?“, schrie die Frau wütend und warf den Kuchen auf den Boden, bevor sie aus dem Laden stürmte. Verwirrt hob ihn der Bäcker auf und probierte selbst ein winziges Stück, während sein Lehrmeister herbeistürmte. Die Kundin hatte nicht gelogen. Der Kuchen war versalzen.

Fuchsteufelswild verlangte der Bäckermeister den Grund zu erfahren, weshalb er gerade eine seiner besten Kundinnen verloren hatte. Kleinlaut erzählte der Bäckersmann daraufhin von seinem Leid. »Was? Du erkennst nicht mehr, was vor dir ist? Ja, wie willst du denn dann diesen Beruf ausüben? Scher dich weg. Einen blinden Bäcker kann niemand gebrauchen. Schon gar nicht meine Tochter.«, verfügte der Mann und warf den jungen Bäcker hinaus.

Ein neuer Anfang

Verzweifelt beschloss der junge Bäcker, erst einmal nach Hause zu gehen und dort zu überlegen, wie er sich aus dieser misslichen Situation befreien konnte. Sein Heimweg führte ihn an einer großen Apfelplantage vorbei, wo man dringend nach Erntehelfern suchte. »Die Arbeit ist sehr einfach. Du erntest nur die roten, reifen Früchte.«, erklärte ihm der Vorarbeiter, nachdem er den jungen Mann eingestellt hatte. Bewaffnet mit einem großen Korb und einer Leiter, machte dieser sich sofort eifrig ans Werk.

Doch als er am Ende des Tages die Früchte zum Sammelpunkt schaffte, brüllte sein Arbeitgeber wütend auf. »Ich habe dir doch gesagt, dass du nur die roten, essfertigen Äpfel pflücken darfst. Stattdessen bringst du mir nur die grünen, unreifen Früchte mit denen ich nichts anfangen kann. Bist du blind, oder wieso erkennst du den Unterschied nicht?«, tobte der Mann und warf mehrere Äpfel nach dem jungen Bäckersmann, der die Beine in die Hand nahm und davonrannte. »Hau bloß ab und komm nie wieder!«, hörte er noch, bevor der Weg eine Kurve beschrieb und er zu weit weg war.

Ein weiterer Versuch

Geknickt, nahm der junge Mann seinen Heimweg wieder auf. Dabei kam er an einem großen Haus vorbei, in welchem es nur so von Menschen wimmelte. »Sag, hast du nicht Lust, etwas Geld zu verdienen? Mein Herr gibt heute ein großes Fest, für dessen Vorbereitung können wir jede helfende Hand gebrauchen.«, rief ihm einer der Dienstboten zu. Der Bäcker zögerte. Mittlerweile war sein Augenlicht so schlecht geworden, dass er nur noch Umrisse erkennen konnte. »Wenn du dich gut anstellst, erwartet dich eine große Belohnung.«, lockte der Dienstbote weiter. Also schlug der Mann. »Hier muss der Boden gewischt werden. Sei vorsichtig dabei, denn dem Zierrat meines Herrn darf nichts passieren.«, erklärte der Dienstbote und ging.

Seufzend blickte sich der junge Bäckersmann um. Das Zimmer war sehr groß und über den ganzen Raum waren unzählige Vasen, Büsten und Zeichnungen verteilt, die er kaum erkennen konnte. Trotzdem machte sich der junge Mann fleißig ans Werk und wie durch ein Wunder blieben die Gegenstände heil. »Das hast du gut gemacht. Komm näher, ich will dich für deine Arbeit entlohnen.«, lobte der Herr des Hauses, der das Fortschreiten der Vorbereitungen kontrollierte. Eifrig trat der Bäcker auf ihn zu, übersah dabei jedoch eine äußerst filigrane Vase, stolperte und riss das kostbare Stück mit sich, sodass es am Boden zerschellte. Der Herr schrie vor Zorn und Entsetzen laut auf. Eilig lief der junge Mann davon, wissend, dass er wieder eine Arbeitsstelle verloren hatte.

Hoffnung in Form einer Kerze

Der junge Mann rannte solange, bis ihn seine Kräfte verließen. Erschöpft ließ er sich am Wegesrand nieder, um zu verschnaufen. »Womit habe ich mein hartes Los nur verdient? Immer bin ich meiner Arbeit hingebungsvoll nachgegangen. Doch wie soll das funktionieren, wenn ich langsam blind werde? Kann mir denn niemand helfen?«, rief er verzweifelt in die Nacht hinein. Und sein Ruf wurde gehört. »Mir scheint, du leidest, mein Freund. Aber dazu gibt es gar keinen Grund. Nicht, wenn die Lösung so nah ist.«, gackerte eine tiefe Stimme vor ihm. »Wer bist du?«, wollte der Bäcker wissen und versuchte in das Gesicht des Fremden zu sehen. Doch dieser trug einen langen schwarzen Umhang, der seine Gestalt von Kopf bis Fuß verbarg.

»Ein treuer Helfer in der Not, das bin ich.«, behauptete der Fremde und zauberte eine Kerze aus den Tiefen seines Umhangs hervor, »Dies ist eine magische Kerze. Sie wird dein Gebrechen heilen, solange sie brennt.« Verschwommen erkannte der Bäckersmann eine etwa armlange Kerze, die ihm sein Gegenüber auffordernd hinhielt. Er wollte schon danach greifen, hielt jedoch im letzten Moment inne. »Und was ist der Preis für diese Kerze?« »Der ist äußerst gering und im Moment noch nicht relevant. Was ist, willst du sie nun oder nicht?« Angestrengt dachte der junge Mann nach. Er wusste weder ein noch aus, entschied nach einer Weile aber, dass sein Leben ohne die Kerze keinen Pfennig mehr wert war. »Ich nehme an.«, sprach er deshalb und nahm die Kerze entgegen.

© K.ST.

– Fortsetzung folgt –

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