Der undurchdringliche Bambuswald

Per Definition ist ein Labyrinth eine Anlage, in der viele miteinander verschlungene Wege zu einem Mittelpunkt führen. Die vielen Pfade dienen dazu, den Besucher zu verunsichern und ihn dazu zu verleiten, die Übersicht zu verlieren und sich hoffnungslos zu verirren. Daher ist ein Labyrinth auch unter dem Begriff Irrgarten bekannt. Einmal in die Irre geleitet, fällt es den meisten Menschen unglaublich schwer, aus dieser wieder herauszufinden. Viele scheitern schon dadurch, dass ihnen jegliches Vorstellungsvermögen fehlt. Sie verlieren im Angesicht der anscheinenden Hoffnungslosigkeit den Kopf und stürzen in tiefste Verzweiflung, aus der sie nur mithilfe anderer wieder herausfinden. Die Wenigen aber, die ruhig bleiben und mit aufrichtigem Herzen vorangehen, finden ohne Schwierigkeiten den Ausgang, der oftmals gleichzusetzen ist mit der Lösung aller Probleme.

Vor langer Zeit trennte ein großer Bambuswald zwei benachbarte Länder voneinander. Der Wald erstreckte sich in alle Richtungen über viele Kilometer und obwohl der kürzeste Weg von einem Land in das nächste mitten durch ihn hindurchführte, vermieden es die Menschen hartnäckig ihn zu betreten. Grund dafür war nicht etwa die Angst vor Räubern, die darin lauern und mögliche Passanten überfallen könnten. Auch fehlte es nicht an begehbaren Wegen durch den Wald. Genau darin bestand nämlich das Problem, in dem gleichzeitig auch die Herausforderung lag. Betrat man den Bambuswald, boten sich einem unzählige Pfade an, aus deren Summe heraus der einzig richtige Weg bestimmt werden musste, wenn man sich nicht hoffnungslos in die Irre führen lassen wollte. Zahlreiche Personen hatten mit unterschiedlichen Methoden versucht hindurchzukommen, jedoch war nie auch nur ein Einziger zurückgekehrt, sodass sich schon bald niemand mehr traute den Wald zu betreten. Stattdessen nahmen die Menschen einen langen Umweg in Kauf, wenn sie in das benachbarte Land reisen mussten. Das dauerte zwar länger, steigerte aber auch ihre Chancen am gewünschten Ziel tatsächlich anzukommen.

Mit den Jahren regte sich unter den Menschen der Unmut über den Wald. Sie wollten endlich und ohne große Umschweife die Grenze zum Nachbarland passieren können. Die einstimmige Meinung lautete daher, dass der Bambus verschwinden musste. So machten sich die Männer der umliegenden Dörfer eines Tages auf, um ihn abzuschlagen und auf diesem Weg das ungeliebte Hindernis für immer zu beseitigen. Auch der Vater eines kleinen Mädchens machte sich bereit, mit ihnen zu gehen. Als sie ihn anflehte, bei ihr zu bleiben, schüttelte er nur traurig den Kopf. „Der Bambuswald ist ein Problem, dass uns alle angeht. Ich kann nicht untätig bleiben, während andere ihr Leben riskieren. Bleib du hier in Sicherheit. Ich komme jeden Abend zu dir zurück.“, meinte er stur und holte eine alte Axt, die er zusammen mit Essen in einem Beutel verstaute. Die Tochter weinte bittere Tränen. Doch der Vater machte sich trotzdem gemeinsam mit seinen Verbündeten auf zur Waldgrenze.

Abends kam er nicht wieder. Auch am darauffolgenden Tag blieb der Vater verschwunden. Das Mädchen war zutiefst besorgt, wagte es aber nicht das Haus zu verlassen. Als eine Woche später ein Händler am Grundstück vorbeikam, erfuhr sie, dass an der Stelle, an der die Männer hatten arbeiten wollen, nur verlassenes Werkzeug zu finden war, aber keine Menschenseele die es führte. „Die sind alle weg, als hätten sie nie existiert. Wenn sie in den Wald gegangen sind, gibt es keine Hoffnung, sie jemals wieder zu sehen. Denn daraus gibt es kein Entrinnen.“, meinte der Mann kummervoll und fuhr dann weiter. Das Mädchen aber fasste einen folgenschweren Entschluss. Wenn der Vater im Wald war, würde sie sich auf den Weg machen und ihn suchen. Klug wie sie war, packte sie einige Lebensmittel zusammen und verließ dann das Haus.

Die Sonne stand bereits tief am Himmel, als sie den Bambuswald endlich erreichte. Der Händler hatte die Wahrheit gesprochen, denn auch sie traf an diesem Ort keinen Menschen an. Ihr fiel jedoch auf, dass dem Wald kein Schaden zugefügt worden war. Kein einziger Baumstamm war gefällt und aufgeschichtet worden. Es schien ganz so, als hätten die Männer keine Zeit gehabt, mit der Arbeit zu beginnen, bevor sie verschwunden waren. Ohne einen letzten Blick zurück in die ihr wohlbekannte Welt, entzündete das Mädchen eine kleine Lampe, die ihr in der Dunkelheit den Weg weisen sollte und betrat dann den Bambuswald.

Kaum hatte sie den Wald betreten, verlor das Mädchen jegliche Orientierung. Obwohl sie nur wenige Schritte getan hatte, hätte sie nicht mehr sagen können, aus welcher Richtung sie gekommen war oder wo sich der Ausgang befand. Selbst als sie den Weg rückwärtslief, kam sie nicht nach draußen, sondern stieß nur noch tiefer in den Wald vor. Achselzuckend beschloss sie daher weiterzugehen und sich über den Rückweg erst Gedanken zu machen, wenn sie den Vater gefunden hatte. Nach wenigen Metern ließ sie jedoch ein Rascheln zusammenzucken, dass zwischen den dichtstehenden Bambusstangen erklang. Ängstlich presste das Mädchen die Lampe und den Beutel an sich, um gleich darauf erleichtert aufzulachen. Anstelle eines gemeingefährlichen Ungeheuers querte lediglich ein Hase ihren Weg.

„Du hast mich aber erschreckt. Vielleicht sollte ich mir für heute Nacht doch einen Unterschlupf suchen, anstatt weiterzugehen, wenn ich beim kleinsten Geräusch jedes Mal vor Angst zusammenschrecke. Du weißt nicht zufällig, wo ich einen geeigneten Platz finden kann?“, fragte sie lächelnd. Der Hase legte bei diesen Worten den Kopf schief, als würde er nachdenken was zu tun sei. Nach einer Weile nickte er bestätigend und hoppelte ohne Vorwarnung los. Das Mädchen beeilte sich, ihm nachzukommen und stieß kurz darauf auf eine kleine Lichtung. „Vielen Dank, lieber Hase. Nimm diese Karotte als Dank für deine Dienste.“, sprach die Kleine und hielt dem Tier ihre Gabe hin. Der Hase blickte sie unsicher an, bevor er blitzartig die Mohrrübe aus ihrer Hand stibitzte und in der Dunkelheit verschwand. Das Mädchen hingegen bereitete sich ein einfaches Nachtlager und schlief bald darauf ein.

Am nächsten Morgen wurde sie von gleißendem Sonnenschein geweckt, der in breiten Bahnen auf die Lichtung fiel. Der Ort hatte sich verändert. Der Bambuswald wirkte beinahe friedlich und schön und lud dadurch sogar zum Verweilen ein. Doch das Mädchen dachte nicht daran. Eilig packte sie ihr Habe zusammen und machte sich erneut auf den Weg, um den geliebten Vater zu finden. Stundenlang lief sie dazu kreuz und quer durch den Wald, folgte einmal diesem und einmal einem anderen Pfad. Aber egal welchen Weg sie wählte, sie gelangte letztendlich immer nur zurück zur Lichtung. Statt diesen Umstand zu beklagen oder gar in tiefste Verzweiflung zu versinken, blieb die Kleine hartnäckig und machte weiter. Als sie wenig später an einer Quelle vorbeikam, beschloss sie eine Rast einzulegen.

Durstig schöpfte sie Wasser, um ihren Durst zu stillen, da durchbrach ein schrilles Heulen die Stille. Neugierig unterbrach das Mädchen ihre Tätigkeit und machte sich auf die Suche nach dem Ursprung des Geräuschs. Sie umrundete das Becken und entdeckte hinter einem großen Felsen einen jungen Wolf, dessen Pfote sich in einer Spalte zwischen den Steinen verfangen hatte. Jaulend und unter größten Schmerzen, versuchte das Tier sein Bein zu befreien, sank dabei aber nur noch tiefer ein. „Lass mich dir helfen, alleine schaffst du es nicht.“, meinte die Kleine mitfühlend und streckte die Hand nach dem Wolf aus. Dieser knurrte zwar abweisend, ließ sich schlussendlich aber doch von ihr helfen. „So, das hätten wir. Du bist wieder frei.“, sprach sie glücklich, nachdem das Tier befreit war. Der Wolf betrachtete seine Retterin noch einen Moment und lief dann davon. Das Mädchen aber trank lächelnd ihr Wasser, bevor auch sie sich wieder auf den Weg machte.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, als die Kleine erneut auf eine Weggabelung stieß. Nachdenklich ließ sie den Blick wandern und überlegte fieberhaft, welcher Pfad sie wohl zu ihrem Vater führen würde. Da kam ein Wildschwein den Weg entlanggetrottet, das verblüfft stehen blieb nachdem es sich der Anwesenheit des Mädchens gewahr geworden war. „Liebes Wildschwein, kennst du vielleicht den richtigen Weg? Ich suche meinen Vater und seine Kameraden, um sie sicher nach Hause zu bringen.“, fragte sie hoffnungsvoll. Doch das Tier verharrte reglos und stumm. „Du weißt es also nicht, verstehe. Hab trotzdem Dank und gehab dich wohl.“, meinte die Kleine traurig und wollte weiterlaufen. Doch das Wildschwein verstellte ihr den Weg. Überrascht wollte sie einen anderen Pfad wählen, doch auch dies ließ das Tier nicht zu. Erst beim dritten Versuch schien es zufrieden. Da wurde dem Mädchen klar, das das Wildschein auf diese Weise sicherstellen wollte, dass sie in die richtige Richtung lief. Freudenstrahlend bedankte sich die Kleine und lief los, nur um wenige Minuten später die wohlbekannte Lichtung zu betreten, wo sie bereits sehnsüchtig erwartet wurde.

Vorsichtig trat das Mädchen näher und musste mehrmals blinzeln, bevor sie erkannte, dass es nicht der Vater, sondern eine wunderschöne Frau war, die sie mit ihrer Anwesenheit beehrte. Ihre weiße Haut und das lange silbrige Haar, brachten ihre Erscheinung zum Leuchten, sodass schnell der Eindruck entstand, sie wäre ein überirdisches Wesen. In kostbare Seide gewandt, saß sie auf einem goldenen Thron, zu dessen Füßen der Wolf und der Hase saßen, denen das Mädchen bereits begegnet war. Die Versammlung wurde durch das Wildschwein ergänzt, dass langsam herantrottete, als die Frau mit glockenheller Stimme zu sprechen begann: „Du bist also das Kind, dass gütig und hilfsbereit zu meinen Freunden war.“ „Ich glaube ja.“, antwortete die Kleine schüchtern. Da lachte die Frau. „Du glaubst? Bescheiden bist du also auch noch. Es ist eine Wohltat einem Menschen zu begegnen, der kein selbstgerechtes und zerstörerisches Wesen in sich trägt. Nun gut. Ich bin die Herrin dieses Waldes und möchte dir für deine Taten danken. Einen Wunsch will ich dir daher gerne erfüllen.“, meinte die Erscheinung lächelnd. „Ist eure schlechte Meinung von den Menschen der Grund dafür, dass niemand den Wald nach dem Betreten jemals wieder verlassen kann?“, wollte das Mädchen wissen.

Die Frau betrachtete ihre Gesprächspartnerin eine Weile nachdenklich, bevor sie wieder das Wort an sie richtete: „Dann irre ich mich? Seit Jahrhunderten betretet ihr den Wald, ohne um Erlaubnis zu bitten. Und wenn ihr doch Einlass findet, zerstört ihr ohne Rücksicht auf andere, was ihr vorfindet. Dies kann ich nicht dulden.“ „Könnt ihr nicht Gnade walten lassen, wenn die Menschen schwören, sich zu bessern? Könnten wir dann den Wald durchqueren? Nur das will ich mir von euch wünschen.“, fragte die Kleine hoffnungsvoll. „Wenn das dein Wunsch ist.“, sagte die Frau langsam. „Oh ja, bitte! Und ich verspreche im Gegenzug, allen Menschen eure Botschaft auszurichten, sodass der Bambuswald in Zukunft nur noch mit Respekt behandelt wird.“, versprach das Mädchen aufrichtig.

„In Ordnung, dein Wunsch wird gewährt. Geh jetzt nach Hause. Deine Lieben erwarten dich dort. Doch sei gewarnt! Brichst du oder irgendein Mensch noch einmal meine Gesetzte, wird es euch schlecht ergehen.“, bestimmte die Herrin des Waldes und verschwand. Voller Zuversicht lief das Mädchen los. Sie war nicht überrascht, dass sie den richtigen Weg auf Anhieb fand und im Nu zu Hause war. Wie versprochen wartete dort bereits der Vater, der die Tochter glücklich in die Arme schloss. Nachdem sie ihm von ihren Erfahrungen erzählt hatte, gingen sie zusammen ins Dorf, um auch den anderen Bewohnern davon Bericht zu erstatten. Schon bald wussten auch die fahrenden Händler Bescheid, die die Botschaft der Herrin des Waldes auch im Nachbarland verbreiteten. Und gemeinsam beschlossen die Menschen, den Wald von nun an zu respektieren und wertzuschätzen.

Um sich für immer an die Worte der Herrin erinnern zu können, errichteten sie auf beiden Seiten des Waldes einen Tempel, der ihr gewidmet wurde. Jeder Reisende, der den Bambuswald betreten wollte, legte an diesem Ort einen feierlichen Eid ab, die Tiere im Wald und ihr zu Hause zu achten und zu ehren. Ab jenem Tag war es kein Problem mehr den richtigen Weg durch den Irrgarten zu finden.

© K.ST.

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