Überall auf dieser Welt existieren Besonderheiten. Dabei kann es sich um positive, negative oder neutrale Merkmale eines Gegenstandes oder einer Person handeln, welche aus der Masse hervorstechen. Äußerlich lässt sich gemeinhin nur die Andersartigkeit feststellen, die allgemein bewundert wird. Erst ein genauerer Blick auf das Innere offenbart, dass damit auch Einsamkeit verbunden sein kann, der die Betroffenen unter allen Umständen entkommen wollen. Das macht sie allerdings oft blind für die Bedürfnisse anderer.
Die Folgen der Besonderheit
Auf einer Insel inmitten des Ozeans hatte sich im Laufe der Jahrtausende ein gewaltiger Berg entwickelt. Durch seinen außergewöhnlich großen Umfang war es ihm gelungen eine Höhe zu erreichen, die einen fast glauben ließ, dass er mit seiner Spitze irgendwann das Himmelszelt durchstoßen würde. Aus diesem Grund war er zur Besonderheit geworden, der man Verehrung und Bewunderung entgegenbrachte. Nur er selbst hatte wenig Freude daran. Denn der Wind blies unaufhörlich über seine zerklüfteten Hänge und die gigantische Höhe schuf ein eisiges Klima, wodurch niemand mit ihm leben wollte oder ihn gar je besuchen kam. Auch die Aussicht konnte er nicht genießen, da eine dicke Wolkendecke jahrein, jahraus den Blick in die Ebene versperrte. Durch die dadurch entstehende Isolation vereinsamte der Berg mit der Zeit langsam aber sicher völlig.
Die unerwünschte Veränderung
Eines Tages braute sich ein schweres Unwetter über dem Berggipfel zusammen. Die bisher weißen Wolken verfärbten sich dunkel und ließen unzählige kleine nasskalte Flocken auf die Berghänge rieseln. Schon bald war eine dicke Decke pulvrigen Schnees entstanden, der sich unaufhörlich und überall hin ausbreitete.
Der Berg aber grollte vor Zorn, da er mit den Geschehnissen gar nicht einverstanden war. Wie konnte es der Schnee bloß wagen, auf ihn zu fallen und liegen zu bleiben, ohne um Erlaubnis zu fragen? Immerhin war der Berg eine unumstößliche Gewalt, der sich alle zu fügen hatten! Aus diesem Grund beschloss er nach kurzer Überlegung, den anderen für sein Versäumnis zu bestrafen. Ohne auch nur ein klärendes Wort mit dem Schnee gesprochen zu haben, nahm der Berg all seine Kräfte zusammen und ließ tiefe Felsschluchten entstehen, in die der Schnee hineinfiel. So, dachte der Berg zumindest, würde sein Gegner geschwächt werden und irgendwann dorthin zurückkehren, woher er gekommen war.
Die andere Seite der Wahrheit
Während der Berg wütend über die Geschehnisse war, war auch der Schnee mehr als nur ein wenig unglücklich. Statt im Gebirge eingesperrt zu sein, wollte er lieber ins Tal hinunterrieseln und mehr von der Welt sehen, als es in dieser Höhe möglich war. Er ging sogar davon aus, dass der Berg die Wolken absichtlich an Ort und Stelle hielt, um ihn zu quälen und abzuschotten. Als sich dann der Boden unter dem Schnee auftat und er tief in der Dunkelheit des Berges hinein verschwand, schwor er Rache. Mit dem Berg zu sprechen und Frieden zu schließen, kam auch für ihn nicht infrage. Stattdessen griff er sich Erde und vermischte sich mit dieser. Der dadurch entstehende Schlamm löste das Gestein und trugen es hinab in das Tal, was dem Berg unendliche Schmerzen bereitete.
Zwischen dem Berg und dem Schnee entbrannte ein heftiger Kampf. Jedes Mal, wenn einer der beiden sich wehrte, konterte der andere ohne groß darüber nachzudenken. Es dauerte lange und verursachte viel Leid, ehe beide ihres Verhaltens überdrüssig geworden waren. „Sag, wollen wir nicht endlich aufhören uns zu bekriegen und Frieden schließen? Ich bin müde und möchte endlich in Ruhe leben.“, schlug der Berg erschöpft vor. „In Ordnung, kein Streit und Gezanke mehr. Jeder bleibt für sich und kümmert sich nicht um den anderen.“, stimmte der Schnee matt zu.
Die Gemeinsamkeiten in der Unterschiedlichkeit
Schnell wurde es dem Schnee jedoch langweilig. Also überwand er seinen Stolz und begann ein Gespräch mit dem Berg, um die Zeit zu vertreiben. Bald erkannten beide, dass sie mehr miteinander gemein hatten, als gedacht. Genau wie der Berg, machten dem Schnee nämlich die enorme Höhe und der starke Wind nichts aus. Die Kälte entsprach ihm sogar deutlich mehr als die Wärme. Und, wenngleich er es niemals laut zugegeben hätte, war auch der Schnee bisher sehr einsam gewesen und sehnte sich nach Gesellschaft.
So geschah es, dass die anfängliche Ablehnung allmählich in Freundschaft umschlug, die sich dann in Liebe verwandelte.
Die unumgängliche Wandlung
Die Zeit verging und brachte Veränderung mit sich. Von einem Tag zum anderen blieb der kalte Wind mit einem Mal aus, der sonst tagein, tagaus um den Berggipfel geweht war. An seine Stelle traten Böen mit warmer Luft, die den Schnee zum Schmelzen brachten. „Oh je, was passiert hier nur? Ich werde immer weniger! Hilf mir, sonst bin ich bald verschwunden!“, rief dieser erschrocken aus. „Halte durch. Ich werde dich um jeden Preis bewahren.“, versprach der Berg. Aber ihm wollte einfach keine Lösung einfallen, wie er den warmen Wind aufhalten konnte. Der Schnee wurde schließlich so schwach, dass er sich nicht mehr alleine auf den Kämmen des Berges halten konnte und in das Tal hinter zufließen drohte. Verzweifelt schuf der Berg mehrere Gerölllawinen, mit denen er den Geliebten tief in sein felsiges Innerstes brachte, wo er sich in der Kälte und anhaltenden Dunkelheit erholen konnte.
Der Wind, ein unberechenbarer Zeitgenosse, hatte den Widerstand des Berges jedoch bemerkt und wurde wütend. Er beschloss den Liebenden vor Augen zu führen, dass der Lauf der Dinge vorherbestimmt war und man sich nicht davor verschließen durfte, da dies zu ungeahnten Nachwirkungen führen konnte. „Los ihr Wolken, löst euch auf! Macht es möglich, dass ich ihnen die Konsequenzen ihres Tuns vor Augen führen kann.“, befahl der Wind und die Wolken verschwanden. Zum ersten Mal behinderte nichts mehr die Sicht auf die Ebene. Neugierig wandten der Berg und der Schnee den Blick in die Tiefe. Nur wollte ihnen das Gesehene gar nicht gefallen. Weit unten am Fuße des Berges, lebten unzählige Menschen zusammen, denen das Wasser langsam knapp wurde. Verzweifelt warteten sie auf den Schnee, der auf seinem Weg in das Tal die Flüsse und Seen mit Wasser füllen sollte.
Das Opfer und der Lohn
Der Berg sah ein, dass es so nicht weitergehen konnte. „Mein liebster Schnee, unsere gemeinsame Zeit muss sich nun dem Ende zuneigen.“, sprach er daher schweren Herzens. „Ja, du hast recht. Wir dürfen die Menschen nicht für unser Glück bestrafen. Nehmen wir also Abschied.“, antwortete der Schnee niedergeschlagen und das Paar trennte sich. Während der Schnee in das Tal hinabsank und zum erlösenden Wasser wurde, verfiel der Berg in tiefe Trauer.
Auch den Wind betrübten die Ereignisse und das dadurch entstandene Leid sehr. Also beschloss er, die lange Reise nach Norden auf sich zu nehmen, um die Kälte zumindest für einen Teil des Jahres zum Berg zurückzubringen.
Es vergingen viele Monde, bis den Berggipfel abermals eisigen Böen umtrieben, Wolken entstanden und dicke Flocken vom Himmel herabfielen. Der Berg und der Schnee waren wieder vereint. Zumindest so lange wie der Wind brauchte, die warme Luft aus dem Süden zu holen und den Kreislauf zu schließen. Und obwohl dies für die Liebenden eine wiederholte Trennung voneinander bedeutete, hatten sie doch verstanden, dass ein Ende keineswegs für immer gelten musste und sie auch ohne den anderen nie mehr wirklich allein waren.
K.ST.
